Kritische kulturelle Produktion
Wir verstehen kulturelle Bedeutungsproduktion als zirkulären und konfliktreichen Aushandlungs- und Selbstverständigungsprozess. In diesem werden Sichtweisen und Einstellungen erzeugt, aufgenommen und in einem öffentlichen Zirkulationsvorgang distribuiert, dabei oft reproduziert, aber manchmal eben auch neu verhandelt. Im Kreislauf der Kultur wird offensichtlich, dass Gesellschaften, Gruppen und Einzelpersonen kontinuierlich an diesen Vorgängen beteiligt sind. Wird Kulturproduktion als ein Prozess verstanden, der sich vor allem im Alltag und in den Lebensweisen der Menschen artikuliert, dann rücken die zivilgesellschaftliche Mitbestimmung, die Dynamiken öffentlicher Verhandlung sowie die (Re-)Produktion von Ungleichheiten und Ausschlüssen in den Mittelpunkt des Interesses. Einer der Beweggründe für künstlerische und kulturelle Interventionen ist die starke Regulierung der kulturellen Bedeutungsproduktion, die von gesellschaftlichen, politischen sowie ökonomischen Machtansprüchen und von Konflikten und widersprüchlichen Interessen geprägt ist.
Kritische kulturelle Produktion setzt an dem Willen an, „nicht dermaßen regiert zu werden“ (Foucault 1992: 8) (*4) und versucht, neue Erfahrungen zu ermöglichen und damit andere Wahrnehmungsweisen zu eröffnen und Wissensregime zu irritieren. Wir verstehen kritische kulturelle Produktion als engagiertes und produktives Mitgestalten der eigenen Lebenswelt, die in kulturelle und öffentliche Prozesse der Bedeutungsproduktion eingreift und auf zivilgesellschaftlicher Teilhabe und Kollaboration beruht. Dabei greifen wir auf den Begriff des ‚Cultural Producers‘ bzw. der Kulturproduzent_innen zurück, um sichtbar zu machen, dass Menschen die kulturelle Bedeutungsproduktion einer Gesellschaft in einem kollaborativen Prozess stets mitbestimmen und mitgestalten. Die Frage ist allerdings, wie bewusst dies jeweils geschieht und welche praktisch-handwerklichen wie gedanklich-reflektierenden Möglichkeiten und ermächtigenden Handlungsräume Menschen dafür zur Verfügung stehen. Denn diese gehören zu den Voraussetzungen, um Kritik zu äußern, neue Erfahrungen zu machen, die gesellschaftlichen Rahmungen zu irritieren und damit Wissensordnungen zu stören. Die Schaffung von demokratischen Öffentlichkeiten und von Räumen, die zivilgesellschaftliche und kulturelle Teilhabe ermöglichen, sind für dieses Verständnis von kritischer kultureller Produktion zentral. Ihre wichtigsten Reflexionsmomente sind Partizipation und Kollaboration, Privilegierung und Ausschlüsse, intersektionale Verschränkungen, soziale Ungleichheit und kulturelle Abwertung.
Künstlerische und kulturelle Praktiken, die aktiv Mitsprache an kulturellen Produktionsprozessen einfordern und Aushandlungsprozesse anstoßen, setzen sich mit unseren alltäglichen Bedeutungsrastern und mit aktuellen gesellschaftlichen Phänomenen kritisch auseinander, indem sie Vertrautes, Gewohntes, Gängiges hinterfragen und vielfältige Wahrnehmungsperspektiven entwerfen. Sie intervenieren – oft explizit, zuweilen nur implizit – in das, was aktuell als Kultur verstanden und gelebt wird: „Works of art, DIY cultural forms, etc. […] irritate and challenge the way we ‚normally‚ see and do things. Today a host of contemporary art productions exist that aim to reflect on and interpret our cultural contexts and the underpinnings of our daily routines.“ (Zobl/Klaus 2012: o.S.) (*43) Künstlerische und kulturelle Praktiken – vor allem an der Schnittstelle zum sozialen/politischen Engagement – haben grundsätzlich das Potenzial, gesellschaftliche Entwicklungen zu reflektieren, neue (oder andere) Sichtweisen zu artikulieren, Erfahrungsräume zu öffnen und kritisches Denken und Handeln anzustoßen. Voraussetzung dafür ist ein kritischer Blick auf (eigene) Privilegien, auf gesellschaftliche Ausschlüsse und Ungleichheiten und die Bereitschaft, solidarische Allianzen und Kooperationen einzugehen. Zentral bleibt, über den „Hiatus zwischen Wirklichkeit und Möglichem“ (Hark 2009: 31) (*12) und auch über die Differenz von Wollen und Bewirken nachzudenken. Eine solche kritische Praxis ermöglicht, tradierte Bedeutungen nicht in erster Linie zu reproduzieren, sondern diese offen zu legen, damit der Kritik zugänglich zu machen und zu verändern. Voraussetzung dafür ist die Fähigkeit, Fragen zu stellen, Kritik – auch im Sinne einer Selbstreflexion – zu formulieren und auszusprechen, um gesellschaftliche Prozesse mitzugestalten, denn: „Kritisches Denken gibt uns die Mittel, die Welt so zu denken, wie sie ist und wie sie sein könnte.“ (Wacquant 2006: 669 zitiert nach Hark 2009, Herv. i.O.) (*12)
Elisabeth Klaus, Elke Zobl ( 2020): Kritische kulturelle Produktion im Kontext von Cultural Studies und Cultural Citizenship. In: p/art/icipate – Kultur aktiv gestalten # 11 , https://www.p-art-icipate.net/kritische-kulturelle-produktion/