Der Kreislauf kultureller Bedeutungproduktion
Stuart Hall – einer der führenden Intellektuellen der ‚neuen Linken‘ in Großbritannien und langjähriger Direktor des Centre for Contemporary Cultural Studies (CCCS) an der Universität Birmingham – hat sich in seinen Forschungsfragen intensiv mit dem Verhältnis von Kultur, Identität und Macht beschäftigt. Dabei verwendet er für die materiellen Produkte kommunikativer Prozesse den Begriff des ‚Textes‘, der sowohl sprachliche Äußerungen als auch mediale Artefakte umfasst. Halls Encoding-decoding Modell (vgl. Hall 1973; Krotz 2009) (*10) (*23) verdeutlicht, dass ‚Texte‘ sowohl von denjenigen, die sie produzieren als auch von denjenigen, die sie rezipieren, mit Bedeutungen versehen werden. Die Bedeutungen, die Produzent_innen mit ihren Texten transportieren wollen, müssen dabei keineswegs mit jenen Bedeutungen übereinstimmen, welche die Rezipient_innen daraus ablesen. Das liegt daran, dass Texte – der Semiotik und neueren Linguistik folgend – stets polysem, d.h. vieldeutig sind. Ein kommunikativer Austausch ist demzufolge ein Prozess, in dem die Bedeutung eines Textes nicht durch dessen Codierung auf Seiten der Produzent_innen festgelegt ist, sondern im Prozess der Interpretation, Aneignung und Verhandlung durch die Rezipierenden mit verschiedenen Bedeutungen belegt werden kann.
An die Überlegungen Halls anknüpfend hat Richard Johnson (1985) (*18) erstmals von einem „circuit of culture“, einem „Kreislauf der Kultur“ gesprochen, in den a) der Text, b) seine Produktion, c) seine Rezeption bzw. Konsumption und schließlich d) die sozialen und kulturellen Kontexte zum Zeitpunkt der Textzirkulation eingebunden sind. (vgl. Hepp 2010: 159ff.; Göttlich 2015) (*15) (*8) Erst im Zusammenwirken dieser vier Elemente wird kulturelle Bedeutung generiert.
Abbildung 1: Kreislaufmodell der Kultur nach du Gay et al. (1997:3) (*2)
Paul du Gay et al. (1997) (*2) haben Johnsons Modell modifiziert und weiterentwickelt. Ihre Überlegungen kreisen dabei um den für Stuart Hall so wichtigen Begriff der Artikulation. Es ist ein vielfältiger Begriff, der die Übertragung von kulturellen Artefakten in andere Kontexte ebenso umfasst wie ihre Umdeutung oder die Zusammenfügung von Elementen aus verschiedenen Diskursen, wodurch neue Bedeutungen entstehen können. Das Modell von Paul du Gay et al. beschreibt fünf Artikulationsebenen, die in einer komplexen Beziehung zueinander stehen. Die drei Ebenen Repräsentation, Produktion und Konsum(ption) sind bereits in den früheren Modellen vorhanden, wenn sie dort auch andere Bezeichnungen tragen: Repräsentation – bei Hall als „Text“ bezeichnet – umfasst alle kulturellen Produkte/Güter, die immateriell und/oder materiell rezipiert bzw. konsumiert werden können. Hall (1997) (*11) hat die Bedeutung von Repräsentationen herausgestrichen, denn sie rahmen unsere Vorstellungswelt und entscheiden darüber mit, was sagbar und was unsagbar ist, was sichtbar wird und was unsichtbar bleibt. Er schreibt:
„It is by our use of things, and what we say, think and feel about them – how we represent them – that we give them a meaning. In part, we give objects, people and events meaning by the frameworks of interpretation which we bring to them. In part, we give things meaning by how we use them, or integrate them into our everyday practices. “ (Ebd.: 3)
Produktion meint die technischen, ökonomischen und sozialen Bedingungen, unter denen das kulturelle Gut von seinen Produzent_innen geschaffen wird und in den Kreislauf einfließt. Konsum beschreibt den sozialen und kulturellen Kontext, in dem ein Produkt angeeignet und wie es genutzt wird, also in den Alltag der Konsument_innen und Rezipient_innen einfließt.
Im Vergleich zu den Vorgängermodellen finden sich im Kreislauf der Kultur bei du Gay et al. zwei neue Ebenen: Identität verweist auf die Art und Weise, wie die Güter zur Formung von Subjektivitäten bzw. Perspektiven und Sichtweisen beitragen. Regulation umfasst alle Grenzsetzungen, die den Prozess der Bedeutungsproduktion regulieren, damit steuern und rahmen. Das umfasst u.a. die rechtlichen, technischen, politischen und ökonomischen Bedingungen inklusive der damit verbundenen Regulationsmechanismen, die mitbestimmen, welches Gut überhaupt wie produziert wird, welche Repräsentationen demzufolge zirkulieren und welche Aneignungspraktiken möglich sind. iese fünf Elemente bilden in ihrer vielfältigen Vernetzung eine Art Kreislauf, innerhalb dessen kulturelle Bedeutungen entstehen und immer wieder neu verhandelt werden (vgl. Hepp 2010: 161; Göttlich 2015). (*15) (*8)
Der Kreislauf der Kultur verdeutlicht, dass und wie Menschen in ihn eingreifen können, indem sie selber Kultur produzieren. Als Kulturproduzent_innen können sie neue, andere Repräsentationen entwickeln, die in der Folge in der Gesellschaft zirkulieren. Ein Beispiel dafür liefern die unter dem Begriff der Identitätspolitik zusammengefassten Aktivitäten von Mitgliedern marginalisierter Gruppen, die eine anerkennende Sichtbarkeit erreichen wollen. Die feministischen Bewegungen der 1970er Jahre wie auch die LGBTQI-Bewegungen zeigen, dass Gegenöffentlichkeiten unter bestimmten Bedingungen erfolgreich neue Repräsentationen verankern und dadurch soziale und kulturelle Ausschlussmechanismen in Bewegung geraten können. Wie solche Erfolge möglich sind, wird in der sozialen Bewegungsforschung intensiv diskutiert. Sie fragt danach, wie es möglich wird, dass marginalisierte Gruppen in der Öffentlichkeit Gehör finden und hegemoniale Meinungen, Haltungen und Handlungen in ihrem Sinne verändern können.*3 *(3)
Elisabeth Klaus, Elke Zobl ( 2020): Kritische kulturelle Produktion im Kontext von Cultural Studies und Cultural Citizenship. In: p/art/icipate – Kultur aktiv gestalten # 11 , https://www.p-art-icipate.net/kritische-kulturelle-produktion/