Cultural Citizenship
Das Kreislaufmodell der Kultur haben die Kommunikationswissenschaftlerinnen Elisabeth Klaus und Margreth Lünenborg zugrunde gelegt, um Citizenship (‚Staatsbürgerschaft‘) und zivilgesellschaftliche Teilhabe in heutigen Medien- und Migrationsgesellschaften zu diskutieren. Sie fragen danach, unter welchen Voraussetzungen und Bedingungen wem das Recht zugestanden wird, in den Kreislauf der kulturellen Bedeutungsproduktion einzugreifen, also an der gesellschaftlichen Bedeutungsproduktion teilzuhaben, und arbeiten dabei mit dem Konzept einer Cultural Citizenship (vgl. Klaus/Lünenborg 2004a, 2004b, 2012; vgl. auch Stevenson 2001). (*20) (*21) (*22) (*40)
Das aus dem angloamerikanischen Raum stammende Konzept der Cultural Citizenship betont zivilgesellschaftliche Ansprüche auf eine Mitgestaltung kultureller Bedeutungsproduktion. Mit der Betonung kultureller Citizenship erweitert es den Fokus der traditionellen Öffentlichkeits- und Demokratieforschung, die sich zum einen auf die Thematisierung politischer Beteiligungsrechte von Bürger_innen und zum anderen auf die Bedeutung des Nationalstaats dafür beschränkt hat. Der von Thomas M. Marshall 1949 ausgearbeitete Begriff von Citizenship geht darüber hinaus, indem er zivile/individuelle, soziale und politische Rechte als die drei zentralen Dimensionen von Citizenship beinhaltet (vgl. Marshall 1992). (*28) *4 *(4) In seinem Beitrag Postmodern Culture/Modern Citizens erweitert Bryan S. Turner (1994) (*41) Marshalls Typologie um die vierte Dimension einer Cultural Citizenship. Dabei definiert er Citizenship „as a set of practices which constitute individuals as competent members of society“ (Turner 1994: 159). (*41) Turner hebt mit dieser Definition hervor, dass Citizens als Mitglieder einer Gemeinschaft durch die verschiedenen sozialen, rechtlichen, politischen und eben auch kulturellen Praktiken konstituiert werden bzw. sich selber konstituieren. Öffentliche Teilhabe basiert damit (auch) auf der „Möglichkeit einer umfassenden Aneignung der Kulturproduktion einer Gesellschaft“(vgl. Klaus/Lünenborg 2004b: 108). (*21)
Die Formulierung „Aneignung von gesellschaftlicher Kulturproduktion“ setzt keine einheitliche Kultur voraus, sondern berücksichtigt die Vielfalt von kulturellen Ausdrucksformen und erlangt in Migrationsgesellschaften zusätzliche Bedeutung. In der amerikanischen Migrationsforschung wurde das Konzept etwa von Renato Rosaldo (1994) (*38) aufgegriffen. Für ihn besteht gerade in der Anerkennung von Differenz die Essenz des Konzeptes von Cultural Citizenship. Entsprechend definiert er diese als „the right to be different (in terms of race, ethnicity, or native language) without compromising one’s right to belong, in the sense of participating in the nation-state’s democratic processes“ (Rosaldo 1994: 57). (*38) Als vordergründig universelles Prinzip setzt Citizenship ein weißes, männliches, heterosexuelles Subjekt voraus und negiert die Marginalisierung und den Ausschluss anderer Gruppen (vgl. Fraser/Gordon 1994). (*5) Nach Rosaldo bedeutet Cultural Citizenship deshalb Anerkennung jener kulturell vermittelten Annahmen und Praktiken, die Ungleichheit gerade auf Basis einer Gleichheitsrhetorik begründen und verfestigen. Cultural Citizenship liefert damit auch Ausdrucksmöglichkeiten für die Forderungen marginalisierter Gruppen nach gesellschaftlicher Anerkennung: „Bridging the discourses of the state and everyday life, of citizenship and culture, the demand for respecto*5 *(5) is a defining demand of Cultural Citizenship.“ (Rosaldo 1999: 260) (*39)
Kultur wird in dem durch Cultural Citizenship erweiterten Modell als „historisch und sozial gebundener Vorrat an symbolischen Deutungs- und Interpretationsmöglichkeiten“ (Klaus/Lünenborg 2004a: 197) (*20) verstanden, um zu betonen, dass neben den individuellen, sozialen, rechtlichen und politischen Handlungsräumen kulturelle Praktiken Citizenship als Teilhabe an der Gesellschaft konstituieren. Gleichzeitig wird mit dieser vierten Dimension Citizenship aus ihrer nationalen Bezogenheit gelöst, die Marshall voraussetzt und die einen wesentlichen Kritikpunkt an seinem Modell darstellt. Das Konzept der Cultural Citizenship umfasst demzufolge „all jene kulturellen Praktiken, die sich vor dem Hintergrund ungleicher Machtverhältnisse entfalten und die kompetente Teilhabe an den symbolischen Ressourcen der Gesellschaft ermöglichen“ (Klaus/Lünenborg 2004b: 103). (*21) Die heute auch diskutierten Formen von artistic citzenship (vgl. Elliot/Silverman/Bowman 2016) (*3) oder DIY citzenship (vgl. Hartley 1999: 154f.; Ratto/Boler 2014; Reitsamer/Zobl 2014) (*13) (*36) (*37) sehen wir als Teil von Cultural Citzenship an, da deren Fokus auf einen weiten, prozesshaften Kulturbegriff die beiden anderen Formen mit einschließt.
Cultural Citizenship verweist auf die machtvolle Rolle von Kultur für gesellschaftliche Teilhabe und spricht damit neue Aspekte von Zugehörigkeit und Ausgeschlossen-Bleiben, von Inklusion und Exklusion in der Gesellschaft an, die heute noch deutlicher über kulturelle Markierungen – etwa Sprache, Kleidung oder Religion – erfolgen. Für Graham Murdock (1999: 11f.; zuerst 1994: 158f.) (*35) (*34) beinhaltet Cultural Citizenship deshalb die Möglichkeit, eigene kulturelle Identitäten zu entwerfen. Der englische Kultur- und Wirtschaftswissenschaftler fragt danach, wie die aus einer Cultural Citizenship resultierenden Rechte auf „kompetente Teilhabe an den kulturellen Ressourcen einer Gesellschaft“ (Klaus/Lünenborg 2004b: 103) (*21) eingefordert werden können. Ihm zufolge ergeben sich daraus vier Ansprüche, auf:
- Informationen, um Grundlagen für politische und soziale Entscheidungen zu besitzen.
- Erfahrungen, damit die Vielfalt möglicher Lebensweisen zum Ausdruck gebracht werden kann, die somit Ideen für eigene Identitätskonzepte liefern können.
- Wissen, als die Möglichkeit Informationen und Erfahrungen sinnvoll zu interpretieren und zu verknüpfen. Das erfordert Zugang zu Erklärungsansätzen, die das Allgemeine mit dem Besonderen, das Aktuelle mit dem historisch Gewachsenen, die Mikroebene mit der Makroebene verbinden.
- Teilhabe, die den Individuen und Gruppen eine Stimme verleihen und ihren aktiven Anteil am Ringen um Bedeutungen zum Ausdruck bringen.
(vgl. Klaus/Lünenborg 2004a: 202; Klaus/Lünenborg 2012) (*20) (*22)
Das Konzept der Cultural Citizenship bildet die Ausgangsbasis für Mitsprache, Mitbestimmung und Mitgestaltung an gesellschaftlichen und kulturellen Entwicklungen und Prozessen. Folgt man Murdock, so ist die Voraussetzung für Gestaltungsmöglichkeiten unterschiedlicher Menschen, dass ihnen Informationen zur Verfügung stehen, auf deren Basis Erfahrungen verallgemeinert werden können. Indem „Bezüge zur eigenen Lebenswirklichkeit sichtbar werden“ (Klaus/Lünenborg 2004a: 200), (*20) kann auch neues Wissen über die gesellschaftlichen Verhältnisse gewonnen werden. In unserer Lesart umfassen Information und Wissen nicht nur kognitive Prozesse, sondern schließen Möglichkeiten eines Wissenerwerbs durch z.B. neue ästhetische Erfahrungen ein. Denn diese haben für die Veränderung der durch Macht geprägten Wahrnehmungs- und Wissensordnungen der Gesellschaft einen wichtigen Stellenwert.
Die Produktion von kulturellen Bedeutungen umfasst daher sowohl Deutungs- und Interpretationsprozesse, die sich auf die individuellen Identitäten beziehen, als auch solche, die Gruppenzugehörigkeiten oder die gesamte Gesellschaft betreffen. Cultural Citizenship bedeutet, jene kulturellen Ressourcen zu mobilisieren bzw. mobilisieren zu können, die es erlauben, in den Kreislauf der Bedeutungsproduktion einzugreifen, über kulturelle und gesellschaftliche Themen mitzuentscheiden sowie mitzubestimmen, welche Bedeutungen in der Gesellschaft zirkulieren, dort verhandelt, bewertet, reproduziert oder auch verändert werden. Eine derart intervenierende Teilhabe umfasst ein aktives Moment der Mitbestimmung und Mitgestaltung kultureller Bedeutungsproduktion durch verschiedene Individuen bzw. Gruppen. An den symbolischen Ressourcen der Gesellschaft gleichberechtigt teilzuhaben, setzt die Möglichkeit voraus, kritische Fragen aufzuwerfen und kulturelle und gesellschaftliche Teilhabe einzufordern. Hier geht es um Ermächtigung zu persönlichem Ausdruck, Wissenserwerb und die Entwicklung von kritischer Reflexionsfähigkeit, die Mitgestaltung und aktive Teilnahme an einer größeren Gemeinschaft – virtuell, kulturell, politisch – im Sinne eines Cultural Citizenship ermöglichen.
Elisabeth Klaus, Elke Zobl ( 2020): Kritische kulturelle Produktion im Kontext von Cultural Studies und Cultural Citizenship. In: p/art/icipate – Kultur aktiv gestalten # 11 , https://www.p-art-icipate.net/kritische-kulturelle-produktion/