Partizipation in der zeitgenössischen Kunst
Von der postmodernen Condition d’Etre hin zu einer Destabilisierung der Kunstwelt*1 *(1)
Société du Spectacle – Ausweg aus der postmodernen Lähmung?
Die Modalitäten und die Politik von Kunstbetrachtung wurden gegen Ende des 20. Jahrhunderts heiß debattiert. Wie Wolfgang Kemp 1996 feststellte, erstarkte eine autoritätskritische Perspektive, aus der die Spielräume der Betrachter_innen und ihre Möglichkeiten diskutiert wurden, eine subjektive, unvorhergesehene Sicht einzunehmen. Es liegt auf der Hand, dass eine solche Perspektive dem Kunsthistoriker nicht behagte. Kemp hatte sich mit seinem Konzept der Rezeptionsästhetik einen Namen gemacht, die von der Annahme ausgeht, dass der Vorgang der Kunstbetrachtung in einem Werk veranlagt und mehr oder minder deutlich vorgeschrieben ist. Basierend auf dieser Annahme analysierte Kemp die Rezeption ausgehend vom formal-ästhetischen, konzeptionellen und narrativen Aufbau eines Kunstwerks (vgl. Kemp 1996). (*11) Gegen Ende des 20. Jahrhunderts zeichnete sich diesbezüglich eine Umkehrung ab. Anstatt die Rezeption vom Kunstwerk her zu denken, wurde vielmehr das Kunstwerk von der Rezeption her analysiert – ein Ansatz, der Kemps Arbeit grundsätzlich in Frage stellte.
Angesichts der zunehmenden Zahl an Autor_innen, die sich für die Spielräume der Betrachtung und für eine Kunst interessierten, die unvorhergesehene Reaktionen förderte, sprach Kemp despektierlich von einer „Viewer Liberation Front“ (1996: 13). (*11) Die Bezeichnung erscheint nicht nur zynisch, sondern auch fragwürdig, da es sich bei den „Viewer Liberation“-Diskursen keineswegs um eine einheitliche „Front“ handelte. Es fanden sich mindestens drei Diskursstränge, die vor jeweils spezifischen Hintergründen die Neukonzeption der Beziehung von Kunst und Rezeption entwarfen. Einer der Stränge etablierte sich vor dem Hintergrund einer kritischen, feministisch und postkolonial geprägten Theoriebildung in der Auseinandersetzung mit Performancekunst (Peggy Phelan, Amelia Jones). Ein weiterer Strang, der sich in der Auseinandersetzung mit ortspezifischer Kunst („site specificity“) und Kunst im öffentlichen Raum entspann, argumentierte im engeren Sinne mit sozial- und raumtheoretischen Konzepten (Rosalyn Deutsche, Miwon Kwon). Ein dritter Diskursstrang stand unter starkem Einfluss der poststrukturalistischen, vor allem französischsprachigen Philosophie. Er war nicht zwingend am Kunstgeschehen, sondern viel mehr an der Position des Individuums in einer zusehends medial vermittelten Welt interessiert. Dennoch wirkte er auf den Kunstdiskurs ein, was sich im zunehmenden Rekurrieren auf Roland Barthes und Gilles Deleuze manifestierte (Giuliana Bruno, Benjamin Buchloh).
Aus kunsthistorischer Sicht ist auffällig, dass alle drei Diskursstränge mit Entwicklungen und Paradigmen der 1960er Jahre in Verbindung stehen, als Kunst zusehends ephemer wurde, außerhalb von institutionalisierten Räumen stattfand und als Roland Barthes den „Tod des Autors“ und damit die Geburt der Leser_innen – respektive der Betrachter_innen – verkündete. Die Stränge in den 1990er Jahren verkörpern somit Facetten einer postmodernen Geisteshaltung, die sich im 20. Jahrhundert insbesondere unter Einfluss des Marxismus, der Psychoanalyse und des Strukturalismus gefestigt hatte.
Die Auswirkungen dieser Geisteshaltung zeigen sich sehr deutlich im Zusammenhang mit der Kunst von Pierre Huyghe. Seine Arbeiten aus den 1990er Jahren standen deutlich unter dem Eindruck der postmodernen Dekonstruktion. Wie in der Ausstellung Casting angedeutet, drehten sie sich um die Mehrdeutigkeit von Realität. Huyghe orientierte sich dabei an Debatten um die Verfasstheit des postmodernen Individuums in einer medial vermittelten Welt. Unter den Stichworten des „Simulacrum“ und der „Simulation“ war gegen Ende des 20. Jahrhunderts das Wissen darum verbreitet worden, dass die Gesellschaft einem unaufhaltbaren Prozess der Vorspiegelung und des unentscheidbaren Realitätsbezuges ausgeliefert ist. Ein Prozess, der jedes Gefühl von Gewissheit, Verbindlichkeit oder eindeutiger Orientierung abhanden geraten lässt. Das postmoderne Individuum befand sich demnach in einer Position, die kein Gefühl von Wahrheit und Verbindlichkeit kennt und es unmöglich macht, eine künstlerische Arbeit – geschweige denn die Lebenswelt – als Ganzes zu erfassen.
Diese postmoderne Condition d’être wurde insbesondere in der Medientheorie – unter sprechenden Titeln wie Blurred Boundaries (Nichols 1994) (*18) oder Rette wer kann ( ) (Paech 1990) (*19) – diskutiert. Dem Individuum wurde eine unlösbare „postmoderne Skepsis“ (Carroll 1998: 36) (*7) attestiert, ein Misstrauen gegenüber der vermittelten Welt und zugleich eine fehlende Handlungsstrategie, um dagegen vorzugehen. Es sei parallelisiert und letztlich auch isoliert, da es vom permanenten Zweifel heimgesucht wird, überhaupt Zugriff auf eine intersubjektive Wirklichkeit zu haben.
Diese Skepsis ging einher mit einer Geringschätzung der Position der Zuschauer_innen gegenüber, *2 *(2) die sich auf Guy Debords Schrift Société du Spectacle (1967) zurückführen lässt. Der paradigmatische Text stellt eine ideengeschichtliche Referenz dar, die Bourriaud – und später seine Antagonistin Claire Bishop (vgl. Bishop 2011) (*4) – im Zusammenhang mit relationaler oder „partizipativer“ Kunst stark akzentuierte. Société du Spectacle wurde im Umfeld der marxistisch geprägten Situationistischen Internationale in Paris verfasst. Es handelt sich um eine Kapitalismus-Kritik, die das Subjekt und seine sozialen Beziehungen ins Visier nimmt, die die Konsumgesellschaft des 20. Jahrhunderts hervorbringt. Eine Gesellschaft, die kaum mehr von konkreten Bezügen zur materiellen Welt und unmittelbaren Beziehungen ausgehe, sondern von dazwischen geschichteten Ideen und vermittelnden Interfaces gesteuert sei. Debord hebt hervor, dass diese Ideen und Interfaces ideologisch geprägt sind und das Individuum seiner selbstbestimmten Beziehung zur Welt berauben.
In Debords Text erkennt Bishop Anfang des 21. Jahrhunderts die Kernreferenz für das Aufkommen partizipativer Ansätze in der Kunst.*3 *(3) Eine Kunst, die ihre Adressat_innen aktiviert und von ihnen abverlangt, zu „participants“ zu werden, sei als Ausweg aus einer isolierten und manipulierbaren Subjektivität aufgefasst worden (vgl. Bishop 2004). (*2) Anhand von Huyghes Arbeit Casting lässt sich diese Verquickung deutlich machen. Eine Instanz oder ein Interface, die über die Situation aufklären würden, fehlten in der Ausstellung. Die Besucher_innen konnten sich nicht an einer vor die unmittelbare Erfahrung geschichteten Vermittlung orientieren. Der Gedankenschluss liegt nahe, dass diese Leerstelle die Betrachter_innen aktiviert. Sie sehen sich gezwungen, aus ihrer herkömmlichen Empfänger_innen-Rolle herauszutreten und selbst, respektive in der Begegnung mit Anderen, Bedeutung zu generieren. Insofern werden sie, gerade weil sie von einer abwesenden Künstler_innen-Autorität hinters Licht geführt werden, aktiviert oder gar ermächtigt.
Diese Überlegung ist für den Diskurs zentral. Künstlerische Arbeiten, die eine Teilhabe der Betrachter_innen einfordern, werden um die Jahrhundertwende stark mit dem Anliegen einer Ermächtigung und Emanzipation verbunden (vgl. Bishop 2004: 61). (*2) Die Dreiecksbeziehung von Künstler_in, Kunstwerk und Betrachter_in wird als Modell-Situation aufgefasst, in der sich das gesellschaftliche Dasein im Spannungsfeld von ideologischem Überbau, Interface und Individuum spiegelt. Die einsetzende Selbstermächtigung in einer Arbeit wie Casting wird dementsprechend als Modell – oder als Utopie – einer Emanzipation gegenüber dem ideologischen Überbau mitsamt seinen manipulativen Kräften gelesen.
Marcel Bleuler ( 2020): Partizipation in der zeitgenössischen Kunst. Von der postmodernen Condition d’Etre hin zu einer Destabilisierung der Kunstwelt[fussnote]1[/fussnote]. In: p/art/icipate – Kultur aktiv gestalten # 11 , https://www.p-art-icipate.net/partizipation-in-der-zeitgenoessischen-kunst/