Kulturarbeit in der ‚Migrationsgesellschaft‘
Ungleichheiten im Kulturbetrieb und Ansatzpunkte für eine kritische Neuausrichtung*1 *(1)
Von der ‚inter-/transkulturellen Öffnung‘ zu einer kritischen Neuausrichtung des Kulturbetriebs
Bezugnehmend auf das Konzept der ‚Migrationsgesellschaft‘ stellt bei der Analyse des Kunst- und Kulturfeldes – und zwar auf sämtlichen Ebenen – die Fokussierung auf machtvolle ‚Othering‘-Prozesse und Ordnungen, die asymmetrische Zugehörigkeiten herstellen und strukturieren, einen wichtigen Ausgangspunkt dar. Einhergehend damit gilt es, Kulturalisierungen aufzudecken, Kategorien und Adressierungen (wie ‚Migrant_innen‘) kritisch zu reflektieren und Diskriminierungen intersektional zu analysieren. Ein weiterer wesentlicher Punkt ist, mitzudenken, dass die Herstellung und Reproduktion von Zugehörigkeit(-en) und Ungleichheiten nicht unabhängig von (Kultur-)Politik und entsprechender Maßnahmen zu sehen ist, da diese einerseits Ausgrenzungen systematisch und strukturell sanktionieren, andererseits aber auch Steuerungsinstrumente für Veränderungen sein können. Nicht zuletzt sind die Privilegien der Mehrheitsgesellschaft zu thematisieren und zu destabilisieren sowie kritische Fragen dahingehend zu stellen, wer wann von welchen – in Initiativen, Projekten, Konzepten oder Maßnahmen festgeschriebenen – Ordnungen profitiert. Analog zu in der Migrationspädagogik formulierten Zielen (vgl. u.a. Mecheril 2016b: 106) (*38) muss es auch im Kulturbetrieb darum gehen, „im Anschluss an die Analyse der durch Migrationsbewegungen deutlich werdenden sozialen Ordnungen und hegemonialen Verhältnisse darüber nachzudenken, wie [P]erspektiven und [Kultur]räume für alle geschaffen werden können. Für alle!“ (ebd.).*9 *(9)
Das Konzept der ‚Migrationsgesellschaft‘ wurde im Kunstkontext bisher primär im Feld der kritischen Kunstvermittlung rezipiert, die sich mit Kunst und Kultur(-institutionen) als Orte von Bildung und Fragen kritischer Ermächtigung auseinandersetzt und auf deren Veränderung abzielt (vgl. Mörsch/Schade/Vögele 2018; ifa et al. 2012; Mörsch 2009). (*47) (*24) (*45) Ausgehend von Rassismus und Ausgrenzung als strukturelle Phänomene könne die „Vision einer Kunstvermittlung, die Ausschlussmechanismen entgegenwirkt und Kunsträume als Lern- und Handlungsorte gerade für minoritäre Positionen nutzbar macht, das Selbstverständnis von Kulturinstitutionen und Kunstvermittlung nicht unberührt lassen“ (Mörsch 2012b: 15). (*46) Die Transformation von Kulturinstitutionen wie Museen weg von bürgerlich elitären Einrichtungen hin zu Akteurinnen der politischen Domäne ist eine erklärte Forderung kritischer Kunstvermittlung. In Hinblick auf „das Agieren einer Kunstvermittlung in der Migrationsgesellschaft“ gehe es dabei einerseits um die individuelle Verantwortung der Vermittler_innen, darüber hinaus aber auch um ein kollektiv zu erarbeitendes „institutionelles Bewusstsein für die Geschichte dieser besonderen Institution“ und die Frage des Produktivmachens der historischen Verantwortung für die Gegenwart (ebd.: 17f.).
Für eine kritische Analyse und migrationsgesellschaftliche Ausrichtung des Kulturbetriebs gilt es, Überlegungen der kritischen Kunstvermittlung zu berücksichtigen, diese aber auch weiterzudenken, insbesondere in zwei Richtungen:
Erstens sind Konzepte und Maßnahmen in Bezug auf Kultureinrichtungen nicht auf etablierte Institutionen zu beschränken, sondern es sollten auch die freien Szenen adressiert und einbezogen werden sowie Wechselwirkungen zwischen den Feldern untersucht werden. Denn der gemeinnützige dritte Sektor ist genauso wie die großen Institutionen von Rassismen und Ungleichheiten durchzogen, die es aufzuzeigen gilt. Gleichzeitig gibt es jedoch gerade in der freien Kulturarbeit zahlreiche Einrichtungen und Projekte, die über viel Expertise in Bezug auf Diversität, die Benennung und Reduktion von Diskriminierungen, die (Selbst-)Organisation und Politisierung von Ausschlüssen betroffener Personen etc. verfügen.
Beispielsweise arbeitet die autonomen Migrant_innenselbstorganisation maiz (vgl. Website) (*72) seit ihrer Gründung in Linz 1994 an den Schnittstellen von politischer Kultur- und Bildungsarbeit. Bereits Anfang der 2000er Jahre formulierte die Selbstorganisation Fragen nach strukturierenden Konfliktlinien sowie Kriterien und Forderungen in Bezug auf Zusammenarbeiten zwischen Migrant_innen und Künstler_innen der Mehrheitsgesellschaft (vgl. Salgado 2015 [2004]), (*55) die heute noch und insbesondere auch in Bezug auf Kulturinstitutionen relevant sind. So werden unter anderem Konzepte von Partizipation kritisiert, die nicht auf eine egalitäre Form der Zusammenarbeit abzielen, sondern lediglich die Involvierung von Migrant_innen meinen (vgl. ebd.). Ein Grundsatz von maiz ist daher, keine Kooperation mit Künstler_innen einzugehen, „die mit bereits fertigen Konzepten zu uns mit der Einladung zur Mitwirkung kommen“ (ebd.: 41). Parallelen zu diesen und weiteren Überlegungen*10 *(10) von maiz sind in dem über zehn Jahre später entstandenen Zehn-Punkte-Programm von RISE 10 things you need to consider if you are an artist – not of the refugee and asylum seeker community – looking to work with our community (vgl. Canas 2015) (*11) zu finden, etwa unter Punkt 4 „Participation is not always progressive or empowering“ (ebd.: o.S.). Seit 2007 ist der ArtSocialSpace Brunnenpassage (vgl. Website) (*68) als Labor und Praxisort transkultureller und partizipativer Kunst in der ehemaligen Markthalle am Wiener Brunnenmarkt tätig. Ein kostenlos zugängliches, mehrsprachiges, interdisziplinäres Programm sowie mehrjährige Kooperationen mit etablierten Kulturinstitutionen wie dem Wiener Konzerthaus, dem Burgtheater und dem Weltmuseum Wien sind Teil des Kernkonzeptes (vgl. Pilić/Wiederhold 2015). (*52) Das seit 2012 jährlich im September zu verschiedenen Ausschreibungsthemen stattfindende Kulturfestival WIENWOCHE (vgl. Website) (*74) versteht Kulturarbeit als ein Einmischen in gesellschaftliche, politische und kulturelle Debatten. Künstlerische und kulturelle Praktiken sollen dabei erweitert und für alle in der Stadt lebenden sozialen Gruppen zugänglich gemacht werden. Die WIENWOCHE bietet umfassende Unterstützung bei der Konzeption und Umsetzung von Projekten und leistet damit einen wichtigen Beitrag zu Professionalisierung von Kulturarbeiter_innen.
Das in diesen exemplarisch erwähnten Einrichtungen und Projekten entwickelte und erprobte Wissen fehlt vielfach in Institutionen (vgl. Moser/Gülcü 2018), (*50) weshalb nicht nur gezielte Maßnahmen zu setzen sind, damit es darin Eingang findet und umgesetzt wird, sondern auch budgetäre Umverteilungen zur umfassenden Stärkung des Feldes freier Kulturarbeit zu empfehlen sind.
Zweitens ist eine breite Umsetzung der Forderungen nach einem Wandel des Kulturbetriebs über den Bereich einzelner Kulturbetriebe hinaus zu denken, indem die Kulturpolitik*11 *(11) und -verwaltung in Bezug auf konkrete (kultur-)politische Maßnahmen adressiert wird (vgl. u.a. Kolland 2016; Mandel 2016b). (*26) (*33) Die kulturpolitische Dimension ist wesentlich, da – wie auch Mark Terkessidis in Bezug auf Organisationen allgemein betont – Wandel oftmals einen Anstoß im Sinne politischer Beeinflussung benötigt (vgl. 2017: 43f.). (*63) Die „Förderung von Diversität“ ist laut der Expertise Handlungsoptionen zur Diversifizierung des Berliner Kultursektors von Joshua Kwesi Aikins und Daniel Gyamerah (2016) (*2) als „zielführende Interaktion zwischen Politik, Verwaltung und Kultureinrichtungen“ zu sehen und kann nur gelingen, „wenn sie vom Parlament sowie der Spitze der Kulturverwaltung als prioritäre und permanente politische Aufgabe verstanden und kommuniziert wird“ (ebd.: 16).
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass es bei der migrationsgesellschaftlichen Ausrichtung des Kulturbetriebs nicht um eine (‚interkulturelle‘ bzw. ‚transkulturelle‘) Öffnung einzelner Kultureinrichtungen, die thematische Verhandlung von Migration oder eine Veränderung von etablierten Institutionen hin zu offenen, kritischen Lernorten geht, sondern um einen umfassenden Wandel und eine systematische diskriminierungssensible Neujustierung des Kulturbetriebs (vgl. Baumgartinger/Moser 2018). (*7)*12 *(12)
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Der Begriff weiß, klein und kursiv geschrieben, ist – wie er im vorliegenden Text verwendet wird – ein von Schwarzen Theoretiker_innen entwickelter analytischer Begriff, um strukturell verankerte weiße Dominanz- und Machtverhältnisse und damit verbundene Privilegien und Rassismen zu bezeichnen (vgl. Kuria 2015).
Mark Terkessidis (2017) spricht allgemein in Bezug auf Institutionen und Einrichtungen in der „Einwanderungsgesellschaft“ von „Vielheitsplänen“ (ebd.: 42ff.), die in unserer Gesellschaft der Vielheit zu entwickeln seien, um einen Perspektivenwechsel und eine Neujustierung der Organisationen zu bewerkstelligen. Migration sieht er dabei als „eine Art Passepartout“ (ebd.: 9), um zahlreiche grundsätzliche Aspekte des Wandels zu diskutieren.
Der Begriff der Transformation taucht seit einigen Jahren verstärkt im Zusammenhang mit Kunst und Kultur auf und wird aus unterschiedlichen Perspektiven im Kontext von demografischem Wandel, Digitalisierung etc. thematisiert, unter anderem in Bezug auf Kulturmangement und -politik (vgl. Knoblich 2018; Kolland 2016; Sievers/Föhl/Knoblich 2016; Föhl/Wolfram/Peper 2016; Föhl/Sievers 2015), Museologie (vgl. CARMAH 2018), kritische Kunstvermittlung (vgl. Mörsch 2009; Settele/Mörsch 2012) oder im Zusammenhang mit Neoliberalismus, Kulturindustrie und künstlerischer Kritik (vgl. Raunig/Wuggenig 2016 [2007]).
Auf die Problematik dieses Begriffs gehe ich an späterer Stelle ein. Im vorliegenden Text wird bewusst auf eine Unterscheidung zwischen Migrant_innen und Geflüchteten verzichtet, da diese Kategorien einen Diskurs der Unterscheidung zwischen berechtigter und nicht berechtigter Migration, notwendiger Flucht (von ‚Kriegsflüchtlingen‘) und weniger zwingender Flucht (von ‚Wirtschaftsflüchtlingen‘) stützen.
Kritikpunkte dieser Art formulierte beispielsweise auch das Bündnis kritischer Kulturpraktiker*innen bezüglich der Tagung Mind the Gap! – Zugangsbarrieren zu kulturellen Angeboten und Konzeptionen niedrigschwelliger Kulturvermittlung (9.-10. Januar 2014, Deutsches Theater Berlin), wo es mit der Aktion Mind the Trap! intervenierte. Kein_e einzige_r selbst von Ausschlüssen betroffene_r Wissenschaftler_in, Kulturpraktiker_in oder Expert_in sei zur Tagung eingeladen gewesen, um sich mit Ausschlüssen und Marginalisierungen aus eben dieser Perspektive kritisch auseinanderzusetzen. „Letztlich ging es, zugespitzt formuliert, um die Vergewisserung der eigenen Position, die so lange gegeben ist, wie die eigenen Parameter nicht infrage gestellt werden.“ (Sharifi/Sharifi 2014: o.S.)
Erklärtes Ziel dieser – u.a. aus aktivistischen und anderen Initiativen verschiedener Akteur_innen des Berliner Kulturbetriebs hervorgegangenen – Einrichtung ist das Initiieren eines diversitätsorientieren Strukturwandels. Die Arbeit umfasst die Beratung von Kulturinstitutionen, Qualifizierungsangebote für Kulturschaffende, die Stärkung unterrepräsentierter Künstler_innen und Kulturschaffender durch Empowermentstrategien, die Unterstützung der Kulturverwaltung in ihrer diversitätsorientierten Ausrichtung sowie die Erhebung von Gleichstellungsdaten für den Berliner Kulturbetrieb (vgl. Website Berliner Projektbüro für Diversitätsentwicklung Diversity Arts Culture).
Ein weiterer von maiz benannter Grundsatz ist, Entscheidungen bezüglich Kooperationen auf Basis bestimmter Kriterien zu treffen, etwa der Bereitschaft und dem Interesse der Künstler_innen an einem „dialogischen Prozess, der sich außerhalb der Logik der Opferrolle und einer eurozentristischen Perspektive entfalten soll“ (Salgado 2015 [2004]: 42). Auch Einklang in Bezug auf die Zielsetzung des Projektes muss vorhanden sein, wobei maiz ein explizit gesellschaftskritisches Interesse und die Vermittlung gegenhegemonialer Positionen formuliert. Sämtliche Phasen und Ebenen von Projekten sollen zudem von kritischer Reflexion (in Bezug auf Rassismen und Sexismen innerhalb des Projekts) durchzogen sein.
Nach Fertigstellung meines Textes und kurz vor Drucklegung bin ich auf ein Gespräch von Lena Prabha Nising und Carmen Mörsch aufmerksam geworden, in dem ähnliche Überlegungen wie in meinem Text angestellt werden. Sie plädieren dafür, wie der Titel ihres Beitrags verdeutlicht, „[s]tatt ‚Transkulturalität‘ und ‚Diversität‘: Diskriminierungskritik und Bekämpfung von strukturellem Rassismus“ zu fokussieren (in: Blumenreich, Ulrike/Dengel, Sabine/Hippe, Wolfgang/Sievers, Norbert (Hg.) (2018): Welt.Kultur.Politik. Kulturpolitik in Zeiten der Globalisierung. Jahrbuch für Kulturpolitik 2017/18, Band 16. Bielefeld: transcript, S. 139-149).
Aikins und Gyamerah (2016: 14) betonen jedoch die Relevanz der Säule ‚Z‘ für Zugang primär in Bezug auf zwei Akteure: die Kulturverwaltung (die u.a. durch eine spezifische Zielgruppenansprache den Zugang zu Förderinstrumenten sicherstellen sollte) und Kulturinstitutionen (die u.a. durch bezahlte Praktika für die Zielgruppe den Zugang in das professionelle Kulturgeschäft ermöglichen sollten).
Dies zeigte sich etwa bei dem Projekt Türkisch – Oper kann das an der Komischen Oper in Berlin. Erstaunt darüber, dass im Kinderchor keine Kinder türkischer Herkunft waren, lancierte Intendant Mustafa Akca einen Aufruf im größten Sender türkischer Sprache in Berlin, worauf sich rund 200 Familien meldeten (vgl. Terkessidis 2017: 50).
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