Kulturarbeit in der ‚Migrationsgesellschaft‘
Ungleichheiten im Kulturbetrieb und Ansatzpunkte für eine kritische Neuausrichtung*1 *(1)
Diskriminierungssensible Perspektive auf Personal, Programm und Publikum in etablierten Institutionen, freier Szene und Kulturpolitik
Eine Neujustierung des Kulturbetriebs setzt voraus, die oben genannten ‚drei P‘ Personal, Programm und Publikum in institutionalisierten und freien Kultureinrichtungen ebenso wie in Organisationen von Kulturpolitik und -verwaltung – wo die drei Ebenen mit den Begriffen Akteur_innen, Angebote, Adressat_innen gefasst werden können – differenziert zu beleuchten. Dabei ist eine intersektionale, diskriminierungskritische Perspektive einzunehmen und der Fokus auf hergestellte (Nicht-)Zugehörigkeiten, Kulturalisierungen und mehrheitsgesellschaftliche Privilegien zu richten. Die Frage nach (fehlenden) Zugängen ist – wie Aikins und Gyamerah mit ihrer die ‚drei P‘ ergänzenden Säule ‚Z‘ für Zugang (2016: 14) (*2) verdeutlichen – ebenfalls zentral. Diese ist grundlegend als Querschnittsaspekt von Personal, Programm und Publikum zu stellen.*13 *(13) Strukturierte und professionell begleitete Prozesse der kritischen Selbstreflexion, Bestandsaufnahme, Evaluation, Bedarfsermittlung, Erarbeitung von Handlungsfeldern und Zielen sind weitere wesentliche Grundlagen einer Neuausrichtung. Entsprechende Grundsatzbeschlüsse, Leitbilder sowie Einplanung und Zurverfügungstellung ausreichender finanzieller Mittel für die Prozesse sind ebenfalls zentral (vgl. Abb. 1).
Abbildung. 1: Ansatzpunkte für eine migrationsgesellschaftliche Neuausrichtung des Kulturbetriebs
Selbstkritische Fragen nach der Zusammensetzung des Personals sind in Kulturbetrieben quer durch alle Hierarchiestufen künstlerischer und administrativer Bereiche, fest angestellter und freier Dienstnehmer_innen zu stellen. Die Personalzusammensetzung ist auch in Kulturpolitik und -verwaltung hoch relevant, nicht nur bei Beamt_innen und Angestellten, sondern insbesondere auch in Entscheidungsgremien, Beiräten und Jurys. Die Berufung der Leitung von Kultureinrichtungen spielt dabei eine zentrale Rolle, da sie „die effektivste Steuerungsmaßnahme zur Förderung von Diversität“ (Aikins/Gyamerah 2016: 28) (*2) zu sein scheint. Dies unter anderem deshalb, weil „Hausleitungen ihre eigenen Programmmacher_innen, Netzwerke und diversitätsrelevante Konzepte mitbringen“ (ebd.). Insbesondere bei der Neubesetzung von Führungskräften sei zu berücksichtigen, dass sich diese umfassend zur Förderung von Diversität verpflichten. Einhergehend mit der Diversifizierung von Personal und anderen Akteur_innen des Kulturbetriebs braucht es weitere umfassende Maßnahmen, die die Umsetzung der Neuausrichtung begleiten und gute Arbeitsbedingungen ermöglichen. Etwa ist zu reflektieren, wie neue Mitarbeiter_innen gesehen und behandelt werden, wie „für ihr Fortkommen gesorgt“ wird (vgl. Terkessidis 2017: 51). (*63) Dabei gilt es auch die in institutionelle Handlungsweisen eingeschriebenen rassistischen Wissensbestände zu thematisieren (vgl. ebd.: 53f.). Die Personalebene spielt in Hinblick auf Veränderungen bei Programm und Angeboten sowie Publikum bzw. Adressat_innen eine wesentliche Rolle.
Beim Programm von Organisationen und Projekten des Kunst- und Kulturbereiches ist einerseits auf der inhaltlich-repräsentativen Angebotsebene nach der Verbreitung von diskriminierendem und rassistischem Wissen und der Produktion von Stereotypien und Ausschlüssen zu fragen. Diese kontinuierliche kritische Selbstreflexion und Evaluation sollte selbstverständlicher Teil jeder Kulturarbeit sein. Andererseits geht es aber auch um eine grundsätzliche Auseinandersetzung mit einem voraussetzungsvollen, bildungsbürgerlichen weißen Kunst- und Kulturbegriff (vgl. Micossé-Aikins 2011), (*42) darauf basierenden Programmen und dadurch geschaffenen Barrieren, die oft mit einem weitgehend fehlenden Interesse an der Kulturproduktion migrantischer Communities einhergehen (vgl. u.a. ebd.; Moser/Gülcü 2018). (*50) Auch die Veranstaltung von Sonderprogrammen für die Zielgruppe ‚Migrant_innen‘ ist kritisch zu hinterfragen, da diese reduktionistische, stereotype Festschreibungen befördern und mitunter über „Tokenism“ im Sinne einer „kurzfristigen, feigenblattartigen Einbeziehung diverser Akteure auf untersten Hierarchieebenen“ (Aikins/Gyamerah 2016: 11) (*2) nicht hinausgehen.
Die Programmebene von Kulturverwaltung und -politik umfasst deren Angebote, Inhalte und Förderstrukturen. Auch hier ist eine grundlegende Hinterfragung der Kunst- und Kulturbegriffe erforderlich, die den Förderungen implizit und explizit zugrunde liegen und Ausschlüsse produzieren. Wo stellen Politik und Verwaltung zudem durch Formalitäten (Nicht-)Zugehörigkeit her, indem die Vergabe von Förderungen an die Staatsbürgerschaft gebunden ist oder Gesetze, Formulare und Förderprozeduren unverständlich sind? Auf Ebene der Kulturverwaltung sind ähnlich wie bei Kulturveranstalter_innen die Art der Adressierung durch barrierebewusste Ansprache*14 *(14) sowie die Wahl der Netzwerke und Kommunikationskanäle*15 *(15) von zentraler Bedeutung für das Gelingen oder Nicht-Gelingen von Kommunikation. Im Anschluss an eine kritische Bestandsaufnahme sowie inhaltliche und sprachliche Adaptierungen sollten für von Ausschlüssen betroffene Personen spezifische Qualifizierungsangebote – beispielsweise in Bezug auf „Antragsfitness“ (vgl. Aikins/Gyamerah 2016: 11) (*2) – und die Sicherung von Zugängen zu Förderprogrammen gewährleistet werden. Zudem ist eine budgetäre Umverteilung mit Fokus auf die langfristige Förderung von Selbstorganisationen und freien Kulturinitiativen zu empfehlen, die in Bezug auf Organisationsstrukturen und darin verhandelte kritische Inhalte wichtige Impulse für eine Neuausrichtung des Kulturbetriebs geben können.
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Der Begriff weiß, klein und kursiv geschrieben, ist – wie er im vorliegenden Text verwendet wird – ein von Schwarzen Theoretiker_innen entwickelter analytischer Begriff, um strukturell verankerte weiße Dominanz- und Machtverhältnisse und damit verbundene Privilegien und Rassismen zu bezeichnen (vgl. Kuria 2015).
Mark Terkessidis (2017) spricht allgemein in Bezug auf Institutionen und Einrichtungen in der „Einwanderungsgesellschaft“ von „Vielheitsplänen“ (ebd.: 42ff.), die in unserer Gesellschaft der Vielheit zu entwickeln seien, um einen Perspektivenwechsel und eine Neujustierung der Organisationen zu bewerkstelligen. Migration sieht er dabei als „eine Art Passepartout“ (ebd.: 9), um zahlreiche grundsätzliche Aspekte des Wandels zu diskutieren.
Der Begriff der Transformation taucht seit einigen Jahren verstärkt im Zusammenhang mit Kunst und Kultur auf und wird aus unterschiedlichen Perspektiven im Kontext von demografischem Wandel, Digitalisierung etc. thematisiert, unter anderem in Bezug auf Kulturmangement und -politik (vgl. Knoblich 2018; Kolland 2016; Sievers/Föhl/Knoblich 2016; Föhl/Wolfram/Peper 2016; Föhl/Sievers 2015), Museologie (vgl. CARMAH 2018), kritische Kunstvermittlung (vgl. Mörsch 2009; Settele/Mörsch 2012) oder im Zusammenhang mit Neoliberalismus, Kulturindustrie und künstlerischer Kritik (vgl. Raunig/Wuggenig 2016 [2007]).
Auf die Problematik dieses Begriffs gehe ich an späterer Stelle ein. Im vorliegenden Text wird bewusst auf eine Unterscheidung zwischen Migrant_innen und Geflüchteten verzichtet, da diese Kategorien einen Diskurs der Unterscheidung zwischen berechtigter und nicht berechtigter Migration, notwendiger Flucht (von ‚Kriegsflüchtlingen‘) und weniger zwingender Flucht (von ‚Wirtschaftsflüchtlingen‘) stützen.
Kritikpunkte dieser Art formulierte beispielsweise auch das Bündnis kritischer Kulturpraktiker*innen bezüglich der Tagung Mind the Gap! – Zugangsbarrieren zu kulturellen Angeboten und Konzeptionen niedrigschwelliger Kulturvermittlung (9.-10. Januar 2014, Deutsches Theater Berlin), wo es mit der Aktion Mind the Trap! intervenierte. Kein_e einzige_r selbst von Ausschlüssen betroffene_r Wissenschaftler_in, Kulturpraktiker_in oder Expert_in sei zur Tagung eingeladen gewesen, um sich mit Ausschlüssen und Marginalisierungen aus eben dieser Perspektive kritisch auseinanderzusetzen. „Letztlich ging es, zugespitzt formuliert, um die Vergewisserung der eigenen Position, die so lange gegeben ist, wie die eigenen Parameter nicht infrage gestellt werden.“ (Sharifi/Sharifi 2014: o.S.)
Erklärtes Ziel dieser – u.a. aus aktivistischen und anderen Initiativen verschiedener Akteur_innen des Berliner Kulturbetriebs hervorgegangenen – Einrichtung ist das Initiieren eines diversitätsorientieren Strukturwandels. Die Arbeit umfasst die Beratung von Kulturinstitutionen, Qualifizierungsangebote für Kulturschaffende, die Stärkung unterrepräsentierter Künstler_innen und Kulturschaffender durch Empowermentstrategien, die Unterstützung der Kulturverwaltung in ihrer diversitätsorientierten Ausrichtung sowie die Erhebung von Gleichstellungsdaten für den Berliner Kulturbetrieb (vgl. Website Berliner Projektbüro für Diversitätsentwicklung Diversity Arts Culture).
Ein weiterer von maiz benannter Grundsatz ist, Entscheidungen bezüglich Kooperationen auf Basis bestimmter Kriterien zu treffen, etwa der Bereitschaft und dem Interesse der Künstler_innen an einem „dialogischen Prozess, der sich außerhalb der Logik der Opferrolle und einer eurozentristischen Perspektive entfalten soll“ (Salgado 2015 [2004]: 42). Auch Einklang in Bezug auf die Zielsetzung des Projektes muss vorhanden sein, wobei maiz ein explizit gesellschaftskritisches Interesse und die Vermittlung gegenhegemonialer Positionen formuliert. Sämtliche Phasen und Ebenen von Projekten sollen zudem von kritischer Reflexion (in Bezug auf Rassismen und Sexismen innerhalb des Projekts) durchzogen sein.
Nach Fertigstellung meines Textes und kurz vor Drucklegung bin ich auf ein Gespräch von Lena Prabha Nising und Carmen Mörsch aufmerksam geworden, in dem ähnliche Überlegungen wie in meinem Text angestellt werden. Sie plädieren dafür, wie der Titel ihres Beitrags verdeutlicht, „[s]tatt ‚Transkulturalität‘ und ‚Diversität‘: Diskriminierungskritik und Bekämpfung von strukturellem Rassismus“ zu fokussieren (in: Blumenreich, Ulrike/Dengel, Sabine/Hippe, Wolfgang/Sievers, Norbert (Hg.) (2018): Welt.Kultur.Politik. Kulturpolitik in Zeiten der Globalisierung. Jahrbuch für Kulturpolitik 2017/18, Band 16. Bielefeld: transcript, S. 139-149).
Aikins und Gyamerah (2016: 14) betonen jedoch die Relevanz der Säule ‚Z‘ für Zugang primär in Bezug auf zwei Akteure: die Kulturverwaltung (die u.a. durch eine spezifische Zielgruppenansprache den Zugang zu Förderinstrumenten sicherstellen sollte) und Kulturinstitutionen (die u.a. durch bezahlte Praktika für die Zielgruppe den Zugang in das professionelle Kulturgeschäft ermöglichen sollten).
Dies zeigte sich etwa bei dem Projekt Türkisch – Oper kann das an der Komischen Oper in Berlin. Erstaunt darüber, dass im Kinderchor keine Kinder türkischer Herkunft waren, lancierte Intendant Mustafa Akca einen Aufruf im größten Sender türkischer Sprache in Berlin, worauf sich rund 200 Familien meldeten (vgl. Terkessidis 2017: 50).
Anita Moser ( 2020): Kulturarbeit in der ‚Migrationsgesellschaft‘. Ungleichheiten im Kulturbetrieb und Ansatzpunkte für eine kritische Neuausrichtung[fussnote]1[/fussnote]. In: p/art/icipate – Kultur aktiv gestalten # 11 , https://www.p-art-icipate.net/kulturarbeit-in-der-migrationsgesellschaft/