Kulturarbeit in der ‚Migrationsgesellschaft‘
Ungleichheiten im Kulturbetrieb und Ansatzpunkte für eine kritische Neuausrichtung*1 *(1)
Abschließende Bemerkungen
Wenn im Kulturbetrieb des deutschsprachigen Raums über Good-Practice-Beispiele in Bezug auf Diversität gesprochen wird, wird immer auch auf das seit 2013 von Shermin Langhoff und Jens Hillje geleitete Maxim Gorki Theater Berlin (vgl. Website) (*73) verwiesen – und dies zu Recht. Das 2016 mit dem Theaterpreis Berlin ausgezeichnete sowie 2014 und 2016 in der Kritiker_innenbefragung von theater heute zum Theater des Jahres gewählte Staatstheater zeigt anschaulich, wie ein der Migrationsgesellschaft entsprechender diskriminierungssensibler Kulturbetrieb aussehen kann. Gesellschaftliche Vielheit spiegelt sich darin strukturell auf sämtlichen Ebenen wider. Das Personal ist in den unterschiedlichen Hierarchiestufen divers, die Projekte und Aufführungen sind (auch visuell) mehrsprachig und das Publikum ist überaus ‚gemischt‘. Das Programm beinhaltet Stücke aus unterschiedlichen Kulturen und sozialen Zusammenhängen, nicht-kanonisierte und kanonisierte Texte, wobei zum Beispiel der deutsche Kanon kontinuierlich dekonstruiert und aus neuen nicht-weißen Perspektiven angeeignet wird. Im Sinne einer in vorliegendem Beitrag argumentierten kritischen Neuausrichtung des Kulturbetriebs verfolgt das Gorki Theater also nicht nur auf der organisatorischen, sondern auch auf der inhaltlichen Ebene einen kritischen und politischen Anspruch, indem es auf der Bühne brisante Fragen verhandelt: „Wie können wir zivilisiert leben in einer heterogenen Gesellschaft? Zugespitzt: Welche neue Gesellschaft brauchen wir?“ (Langhoff 2015: o.S.)
(*30)
Noch sind Beispiele wie das Gorki Theater eher selten – und in dem berechtigten Lob von Einrichtungen wie dieser kann auch eine Gefahr liegen, so Aikins und Gyamerah (2016: 9): (*2) „Diese Häuser sollten nicht als erfreuliche Nischen dargestellt werden, deren Existenz den […] Status Quo rechtfertigt.“ Für einen breiten Wandel in Form einer tiefergehenden strukturellen Veränderung auf unterschiedlichen Ebenen des deutschsprachigen Kulturbetriebs braucht es, wie in vorliegendem Artikel dargestellt, umfassende diskriminierungssensible Analysen und Maßnahmen, die etablierte Institutionen, freie Szene und Kulturpolitik betreffen. Das Konzept der ‚Migrationsgesellschaft‘ mit dem intersektionalen Fokus auf Ordnungen und Prozessen, die asymmetrische (Nicht-)Zugehörigkeiten herstellen und strukturieren, bietet dabei wichtige theoretische Bezugspunkte.
Insgesamt mag eine grundlegende kritische Reflexion des Kulturbetriebs und eine darauf aufbauende breite, systematische Organisationsentwicklung als großes, schwer steuerbares und kaum durchführbares Vorhaben erscheinen, dem der privilegierten Mehrheitsgesellschaft angehörende Kulturschaffende, Kulturbeamt_innen und -politiker_innen eine Reihe von Gegenargumenten entgegensetzen könnten. Wandel „als kreative Herausforderung verstanden“ (Terkessidis 2017: 71) (*63) braucht daher nicht nur Optimismus und Ausdauer, sondern auch eine gewisse „Bereitschaft zum Streit“, denn „[n]iemand hat gesagt, die Gesellschaft der Vielheit sei eine gemütliche Angelegenheit“ (ebd.).
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Der Begriff weiß, klein und kursiv geschrieben, ist – wie er im vorliegenden Text verwendet wird – ein von Schwarzen Theoretiker_innen entwickelter analytischer Begriff, um strukturell verankerte weiße Dominanz- und Machtverhältnisse und damit verbundene Privilegien und Rassismen zu bezeichnen (vgl. Kuria 2015).
Mark Terkessidis (2017) spricht allgemein in Bezug auf Institutionen und Einrichtungen in der „Einwanderungsgesellschaft“ von „Vielheitsplänen“ (ebd.: 42ff.), die in unserer Gesellschaft der Vielheit zu entwickeln seien, um einen Perspektivenwechsel und eine Neujustierung der Organisationen zu bewerkstelligen. Migration sieht er dabei als „eine Art Passepartout“ (ebd.: 9), um zahlreiche grundsätzliche Aspekte des Wandels zu diskutieren.
Der Begriff der Transformation taucht seit einigen Jahren verstärkt im Zusammenhang mit Kunst und Kultur auf und wird aus unterschiedlichen Perspektiven im Kontext von demografischem Wandel, Digitalisierung etc. thematisiert, unter anderem in Bezug auf Kulturmangement und -politik (vgl. Knoblich 2018; Kolland 2016; Sievers/Föhl/Knoblich 2016; Föhl/Wolfram/Peper 2016; Föhl/Sievers 2015), Museologie (vgl. CARMAH 2018), kritische Kunstvermittlung (vgl. Mörsch 2009; Settele/Mörsch 2012) oder im Zusammenhang mit Neoliberalismus, Kulturindustrie und künstlerischer Kritik (vgl. Raunig/Wuggenig 2016 [2007]).
Auf die Problematik dieses Begriffs gehe ich an späterer Stelle ein. Im vorliegenden Text wird bewusst auf eine Unterscheidung zwischen Migrant_innen und Geflüchteten verzichtet, da diese Kategorien einen Diskurs der Unterscheidung zwischen berechtigter und nicht berechtigter Migration, notwendiger Flucht (von ‚Kriegsflüchtlingen‘) und weniger zwingender Flucht (von ‚Wirtschaftsflüchtlingen‘) stützen.
Kritikpunkte dieser Art formulierte beispielsweise auch das Bündnis kritischer Kulturpraktiker*innen bezüglich der Tagung Mind the Gap! – Zugangsbarrieren zu kulturellen Angeboten und Konzeptionen niedrigschwelliger Kulturvermittlung (9.-10. Januar 2014, Deutsches Theater Berlin), wo es mit der Aktion Mind the Trap! intervenierte. Kein_e einzige_r selbst von Ausschlüssen betroffene_r Wissenschaftler_in, Kulturpraktiker_in oder Expert_in sei zur Tagung eingeladen gewesen, um sich mit Ausschlüssen und Marginalisierungen aus eben dieser Perspektive kritisch auseinanderzusetzen. „Letztlich ging es, zugespitzt formuliert, um die Vergewisserung der eigenen Position, die so lange gegeben ist, wie die eigenen Parameter nicht infrage gestellt werden.“ (Sharifi/Sharifi 2014: o.S.)
Erklärtes Ziel dieser – u.a. aus aktivistischen und anderen Initiativen verschiedener Akteur_innen des Berliner Kulturbetriebs hervorgegangenen – Einrichtung ist das Initiieren eines diversitätsorientieren Strukturwandels. Die Arbeit umfasst die Beratung von Kulturinstitutionen, Qualifizierungsangebote für Kulturschaffende, die Stärkung unterrepräsentierter Künstler_innen und Kulturschaffender durch Empowermentstrategien, die Unterstützung der Kulturverwaltung in ihrer diversitätsorientierten Ausrichtung sowie die Erhebung von Gleichstellungsdaten für den Berliner Kulturbetrieb (vgl. Website Berliner Projektbüro für Diversitätsentwicklung Diversity Arts Culture).
Ein weiterer von maiz benannter Grundsatz ist, Entscheidungen bezüglich Kooperationen auf Basis bestimmter Kriterien zu treffen, etwa der Bereitschaft und dem Interesse der Künstler_innen an einem „dialogischen Prozess, der sich außerhalb der Logik der Opferrolle und einer eurozentristischen Perspektive entfalten soll“ (Salgado 2015 [2004]: 42). Auch Einklang in Bezug auf die Zielsetzung des Projektes muss vorhanden sein, wobei maiz ein explizit gesellschaftskritisches Interesse und die Vermittlung gegenhegemonialer Positionen formuliert. Sämtliche Phasen und Ebenen von Projekten sollen zudem von kritischer Reflexion (in Bezug auf Rassismen und Sexismen innerhalb des Projekts) durchzogen sein.
Nach Fertigstellung meines Textes und kurz vor Drucklegung bin ich auf ein Gespräch von Lena Prabha Nising und Carmen Mörsch aufmerksam geworden, in dem ähnliche Überlegungen wie in meinem Text angestellt werden. Sie plädieren dafür, wie der Titel ihres Beitrags verdeutlicht, „[s]tatt ‚Transkulturalität‘ und ‚Diversität‘: Diskriminierungskritik und Bekämpfung von strukturellem Rassismus“ zu fokussieren (in: Blumenreich, Ulrike/Dengel, Sabine/Hippe, Wolfgang/Sievers, Norbert (Hg.) (2018): Welt.Kultur.Politik. Kulturpolitik in Zeiten der Globalisierung. Jahrbuch für Kulturpolitik 2017/18, Band 16. Bielefeld: transcript, S. 139-149).
Aikins und Gyamerah (2016: 14) betonen jedoch die Relevanz der Säule ‚Z‘ für Zugang primär in Bezug auf zwei Akteure: die Kulturverwaltung (die u.a. durch eine spezifische Zielgruppenansprache den Zugang zu Förderinstrumenten sicherstellen sollte) und Kulturinstitutionen (die u.a. durch bezahlte Praktika für die Zielgruppe den Zugang in das professionelle Kulturgeschäft ermöglichen sollten).
Dies zeigte sich etwa bei dem Projekt Türkisch – Oper kann das an der Komischen Oper in Berlin. Erstaunt darüber, dass im Kinderchor keine Kinder türkischer Herkunft waren, lancierte Intendant Mustafa Akca einen Aufruf im größten Sender türkischer Sprache in Berlin, worauf sich rund 200 Familien meldeten (vgl. Terkessidis 2017: 50).
Anita Moser ( 2020): Kulturarbeit in der ‚Migrationsgesellschaft‘. Ungleichheiten im Kulturbetrieb und Ansatzpunkte für eine kritische Neuausrichtung[fussnote]1[/fussnote]. In: p/art/icipate – Kultur aktiv gestalten # 11 , https://www.p-art-icipate.net/kulturarbeit-in-der-migrationsgesellschaft/