Neue Auftraggeber: Wenn Menschen ganz konkret etwas von der Kunst wollen

Marcel Bleuler im Gespräch mit Alexander Koch über die Potenziale einer Kunstproduktion im Bürger*innen-Auftrag

Und es beschreibt die Schritte, wie man im Austausch mit Bürger*innen Kunstprojekte entwickelt?

Das Protokoll beschreibt die Beziehungen zwischen Akteur*innen, die aus freiem Willen zusammenkommen mit dem Ziel, ein Kunstwerk entstehen zu lassen. Es beschreibt einen Prozess, bei dem Bürger*innen artikulieren, was sie brauchen und wünschen, und dies als einen Auftrag formulieren, mit dem sie dann an Künstler*innen herantreten. Den Künstler*innen schlägt das Protokoll vor, sich solche Aufträge anzuhören und ihre Erfahrungen und Möglichkeiten einzubringen, um adäquat auf einen Auftrag zu antworten. Und es schlägt Kunstvermittler*innen, die sonst zwischen Werken und Publika vermitteln, vor, dabei die Rolle von Mediator*innen einzunehmen, damit Bürger*innen und Künstler*innen zusammenfinden und eine produktive Binnen-Beziehung entwickeln können. Das Protokoll beschreibt auch die nötigen Rahmenbedingungen, die Politiker*innen schaffen können, damit dieser Prozess funktioniert. Es legt aber auch fest, dass es im Auftragsprozess keine äußere Autorität gibt. Das ist ganz wichtig. Wenn Bürger*innen einen Auftrag vergeben, kann keine höhere Instanz über ihre Köpfe hinweg entscheiden, was da gemacht wird. Das ist auch der entscheidende Faktor, warum wir erfolgreich sind. Weil die Leute genau verstehen, was Ownership bedeutet, auch wenn sie das Wort vielleicht vorher noch nie gehört haben. Es ist ihr Projekt, ihr Kunstwerk, das da entsteht.

 

Was genau ist mit Mediator*innen gemeint?

Mediator*innen sind diejenigen, die Brücken bauen zwischen Bürger*innen, gleich welchen Hintergrundes, und den Expert*innen, also Künstler*innen, Architekt*innen, Musiker*innen usw. Die Mediator*innen werden von Menschen kontaktiert, die eine Initiative ergreifen wollen, um mit den Mitteln der Kunst ihrem Interesse Sichtbarkeit zu geben, vielleicht einen Konflikt zu transformieren, eine Vision zu finden, die ihnen fehlt, Fragen der eigenen sozialen Existenz aufzuwerfen oder zu manifestieren.

 

Das heißt, die Leute müssen informiert darüber sein, dass es die Neuen Auftraggeber gibt?

Richtig. Und das sind sie in aller Regel, wenn es ein erstes Projekt in einer Region gibt. Dann geht das sehr schnell. Zwei Zeitungsartikel in der lokalen Presse, und die Leute rufen tatsächlich an. Der Bedarf ist größer, als man denken würde. Ich nenne mal ein Beispiel: Der Leiter einer Leichenhalle in einem Krankenhaus rief einmal François Hers an und sagte: „Wir möchten einen Künstler damit beauftragen, unsere Leichenhalle umzugestalten.“ Hers wollte ihn testen und sagte: „Dann nehmen Sie sich halt einen Innenarchitekten, wenn sie die Halle umgestalten müssen.“ Der Leiter aber insistierte und sagte: „Es geht hier um die Frage des Übergangs zwischen Leben und Tod. Nur ein Künstler kann dafür eine Form finden.“ Er war kein Experte für Kunst, hatte aber ein sicheres Gefühl dafür, dass eine so existenzielle Fragestellung nach einer künstlerischen Antwort sucht. François Hers hat sich auf die Sache eingelassen und mit Ettore Spalletti einen hervorragenden italienischen Künstler gefunden, der die Leichenhalle in einen einzigartigen Ort verwandelt hat. Eine Art abstrakte Kapelle des späten 20. Jahrhunderts. So passiert das. Bürger*innen kommen mit konkreten Anliegen und sagen: „Alleine wüssten wir jetzt nicht, wie man dem Gestalt gibt, und deshalb rufen wir euch an, damit ihr uns mit einer Künstlerin oder einem Künstler in Kontakt bringt, der geeignet wäre, auf die Herausforderung, die wir hier sehen, mit einem Projektentwurf zu antworten.“

 

Dann könnte man also auch für eine ganz persönliche Sache einen Auftrag vergeben, oder muss ein Projekt ein „Gemeinwohl“ in sich tragen?

Das Protokoll der Neuen Auftraggeber beschreibt, dass die Auftraggeber*innen in der Lage sein müssen darzustellen, warum ihr Anliegen von gesellschaftlichem Interesse ist, sodass die Gemeinschaft auch investieren soll. Denn das ist eine wichtige Frage: Wer legitimiert eigentlich, dass Steuer- oder Stiftungsgelder für eine künstlerische Produktion eingesetzt werden? Bei uns ist es essenziell, dass die Bürger*innen als aktive Mitgestalter*innen einer demokratischen Öffentlichkeit sagen: „Dies hier ist ein Anliegen, von dem wir glauben, dass es für das gesellschaftliche Leben von Relevanz ist.“ Und wenn sie die Mediator*innen davon überzeugen, dass dem so ist, dann begleiten wir den gesamten Prozess, einschließlich der Finanzierung. Das ist ganz wichtig zu sagen. Auftraggeber*innen müssen bei uns für eine Produktion kein Geld mitbringen.

 

Dann seid ihr also so etwas wie eine Anlaufstelle und bietet eine Art Service?

Generell ist es so etwas wie ein neuer Public Service, ja. Ein Service, den wir der Gesellschaft zur Verfügung stellen. Wir haben das Know-how und die Verfahrenstechnik, und im besten Fall haben wir auch die finanziellen Mittel oder wir beschaffen sie. Die Künstler*innen, die dann in die Projekte reinkommen, sind aber keine Dienstleister*innen. In diesem Punkt ist das Protokoll sehr explizit: Künstler*innen bringen ihre Kompetenz ein und auch ihre künstlerische Freiheit. Sie sagen: “Ok, meine Antwort auf dieses Problem wäre soundso. Das ist mein Entwurf.“ Und wenn die Bürger*innen sagen: „Einverstanden. Das würden wir gerne produzieren“, dann wird es auch umgesetzt. Wenn sie aber sagen: „Das entspricht überhaupt nicht unseren Vorstellungen“, dann wird weitergesucht, auch nach anderen Künstler*innen. Es ist also nicht so, dass Künstler*innen einfach die Erfüllungsgehilfen des Bürger*innenwunsches sind.

star

Achim Könneke (Hg.): Clegg & Guttmann: die Offene Bibliothek; the Open Public Library. Cantz, Ostfildern 1994.

Marcel Bleuler, Alexander Koch ( 2020): Neue Auftraggeber: Wenn Menschen ganz konkret etwas von der Kunst wollen. Marcel Bleuler im Gespräch mit Alexander Koch über die Potenziale einer Kunstproduktion im Bürger*innen-Auftrag. In: p/art/icipate – Kultur aktiv gestalten # 11 , https://www.p-art-icipate.net/neue-auftraggeber/