Neue Auftraggeber: Wenn Menschen ganz konkret etwas von der Kunst wollen

Marcel Bleuler im Gespräch mit Alexander Koch über die Potenziale einer Kunstproduktion im Bürger*innen-Auftrag

 

Ihr macht also keine öffentlichen Aufrufe?

Wenn wir in Zeitungen und im Radio Aufrufe starten würden, dass es jetzt in Mecklenburg eine*n Mediator*in gebe und die Leute Projekte in Auftrag geben könnten, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass 50 Mal das Telefon klingelt. Ein*e Mediator*in kann aber nicht 50 Ortschaften besuchen, das lässt sich nicht schaffen. Das heißt, du kreierst damit nur Enttäuschungen. Dazu braucht man mehr Geld, mehr Strukturen, mehr Mediator*innen. Dann würde das funktionieren. Es gibt ja viele gesellschaftliche Institutionen, von denen die Menschen einfach wissen, dass es sie gibt und dass man dort hingehen kann. Zum Beispiel ein Kunstverein in Hamburg. Da wissen Leute, den gibt es, da kann ich hingehen. Es gibt öffentliche Dienstleitungen. Da kann man anrufen, wenn man ein bestimmtes Problem hat. In Frankreich gibt es Regionen, wo die Neuen Auftraggeber so fest etabliert sind, dass die Menschen das einfach wissen und sich entsprechend melden. In Deutschland sind wir noch nicht so weit. Deshalb müssen wir sehr genau schauen, in welchen Regionen wir aktiv werden können, mit wie vielen Projekten.

 

Liegt euer Fokus auf den einzelnen Projekten oder ist euer Fernziel vielmehr die Etablierung einer Anlaufstelle in diesen Regionen oder überhaupt in Deutschland mit festen Büros etc.?

Als ich 2007 zum ersten Mal davon gehört habe, habe ich sofort gedacht, wir reden eigentlich von einer neuen kulturellen Institution, die es bis jetzt noch nicht gibt. Das klingt ein bisschen vermessen, aber man muss sich auch historische Prozesse klarmachen. Es gibt ganz viele Dinge, die heute in westlichen Demokratien als ganz normal vorausgesetzt werden, die ursprünglich einmal von kleinen Bürger*innengruppen oder kleine Bürger*innenvereine erfunden wurden. Zum Beispiel Sozialhilfe und Arbeitslosengeld. Das waren am Anfang lokale Gemeinschaften, die, wenn jemandem die Ziege wegstarb, das kompensiert haben. Und später ist dann so etwas wie Sozialhilfe verstaatlicht worden als feste Institution mit Ministerium und so weiter. Heute gibt es Hunderte von Kunstvereinen in Deutschland, aber irgendwann gab es mal den ersten, dann zwei, dann drei. Dann haben sie sich in ihrer Struktur auch immer weiterentwickelt und irgendwann hat sich das Ganze verstetigt. Die Neuen Auftraggeber könnten sehr wohl in 30 oder 50 Jahren eines der kulturellen Gestaltungsinstrumente in der deutschen und europäischen Gesellschaft sein.

 

„Man fängt an, in einer Perspektive zu denken, die man vorher so nicht hatte“

 

Würdet ihr auch Grenzen setzen, wenn Auftraggeber*innen zum Beispiel populistische Leute sind oder Leute, wo du merkst, dass ihr Denken nicht demokratisch ist?

Also der letzte Maßstab ist die deutsche Verfassung, um das einmal vorauszuschicken. Es gibt ja eine gewisse Grundlage, auf die wir uns hier alle verständigt haben, bis auf ein paar, die das anders sehen. Wenn du aber mit der lokalen Bevölkerung im Gespräch bist, ist es oftmals vollkommen unklar, wer da jetzt welche Partei wählen würde. Die reden vielleicht darüber, dass die Dorfgemeinschaft nicht gut funktioniert. Wir haben ein Projekt in Steinhöfel, das erzähle ich kurz, da sind zwölf Dörfer, von denen einige historisch nichts miteinander zu tun hatten. Die wurden in einer Bezirksreform zu einer Gemeinde zusammengelegt. Das heißt, sie müssen jetzt irgendwie miteinander klarkommen. Das funktioniert aber nicht so gut, wie es eigentlich müsste. Die Auftraggeber-Gruppe hat gesehen, dass es dringend notwendig ist, dass die Dörfer in einen Dialog miteinander kommen. Dann ist ihnen gemeinsam klargeworden, dass es etwas gibt, das alle verbindet: Sie werden nämlich älter und haben Angst davor, weil Älterwerden auf dem Dorf heute eine ganz schöne Herausforderung sein kann. Insbesondere, weil es eigentlich kaum mehr Gemeinschaftsstrukturen gibt für ältere Menschen. Daraus ist ein Projekt geworden, an dem jetzt die zwei Künstlergruppen Rimini Protokoll und Construct Lab zusammenarbeiten, in einer Mischung aus partizipativer Theaterform und skulpturaler Produktion am jeweiligen Ort. Sie sammeln lokale Geschichten, lokale Narrative und lokales Wissen, um überhaupt einmal so etwas wie eine Beschreibung der tieferen Substanzen dieser Dorfbevölkerung zu kriegen. – Aber du hattest eine konkrete Frage, das war nur das Beispiel dazu.

 

Genau. Meine Frage war, wie ihr reagiert, wenn ihr mit Leuten zu arbeiten beginnt und dann merkt, dass die gar nicht die demokratische Haltung teilen, die hinter Neue Auftraggeber steht.

Wie viele Leute unter denen in Steinhöfel AfD-Wähler*innen sind, auch unter denen, mit denen wir dann reden, wissen wir nicht. Zehn Prozent, 15, 35? Was ich wichtig finde, ist, dass alle dort die Erfahrungen machen können, dass sich etwas in eine richtige Richtung bewegt. Also dass auch ein guter Gemeinschaftsgeist entstehen kann. Und sie fangen an, in einer Perspektive zu denken, die sie vorher so nicht hatten. Die Erweiterung der gesellschaftlichen Vorstellungsmöglichkeiten ist, glaube ich, der eigentliche Kern von dem, was Kultur zu einem Gemeinwesen beiträgt. Also wie unser Verhältnis zu uns selber, zum anderen und zu unserer Umwelt sich immer wieder wandelt. Die Frage ist, wie man diesen Wandel gestaltet. Und wie man ihn auch so gestaltet, dass er am Ende auf ein funktionierendes demokratisches Gemeinwesen hinausläuft, sofern man ein Interesse daran hat. Haben wir. Steht auch im Protokoll. Natürlich geht es um ein demokratisches Gestalten am Ende des Tages. Oder die Gestaltung demokratischen Zusammenlebens. Ich glaube, wenn das glückt, dann wählen vielleicht ein paar Leute weniger die AfD am Ende des Projekts.

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Achim Könneke (Hg.): Clegg & Guttmann: die Offene Bibliothek; the Open Public Library. Cantz, Ostfildern 1994.

Marcel Bleuler, Alexander Koch ( 2020): Neue Auftraggeber: Wenn Menschen ganz konkret etwas von der Kunst wollen. Marcel Bleuler im Gespräch mit Alexander Koch über die Potenziale einer Kunstproduktion im Bürger*innen-Auftrag. In: p/art/icipate – Kultur aktiv gestalten # 11 , https://www.p-art-icipate.net/neue-auftraggeber/